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Rückschritte nicht nur bei der Gleichberechtigung

aktualisiert am 8.5.2022

Katarina Barley Foto: Harald Krichel, Katarina Barley-4934, CC BY-SA 4.0 extern🡽

Katarina Barley (SPD) war von 2013 bis 2019 Bundestagsabgeordnete. Im Juli 2019 wechselte sie in das Europäische Parlament, in dem sie zur Vizepräsidentin gewählt wurde.

Neben ihren Tätigkeiten als Abgeordnete war sie auch für verschiedene Bundesministerien verantwortlich. Ich schrieb der Politikerin in ihrer Funktion als Bundesministerin der Justiz und für Verbraucherschutz.

Gesendet: 18. März 2019 um 19:53 Uhr
Betreff: Rückschritte nicht nur bei der Gleichberechtigung

Sehr geehrte Frau Barley,

Sie zeigen sich besorgt über Rückschritte bei der Gleichberechtigung und setzen sich für ein so genanntes Paritätsgesetz und/oder eine Wahlrechtsreform ein. Als Begründung wird ausdrücklich genannt, dass Frauen in den Parlamenten unterrepräsentiert wären.

Auch wenn man über Sinn oder Unsinn eines solchen Gesetzes streiten kann, so finde ich es persönlich viel gravierender, dass eine andere Gruppe weitaus deutlicher im Bundestag und in den Landesparlamenten unterrepräsentiert ist - und das ist die Gruppe der Arbeiter und Angestellten. Das scheint für Sie und die SPD allerdings kein so großes Problem zu sein. Auf jeden Fall habe ich bisher von keiner einzigen Initiative gehört, die dieses Unrecht beseitigen möchte. Das wundert mich umso mehr, weil Ihre Partei – so dachte ich bisher - dieser Bevölkerungsgruppe besonders nahe steht und angibt, deren Interessen zu vertreten.

Meine Fragen

  1. Wann werden Sie dieses Manko in Ihrer eigenen Partei angehen und wann verzichten die vollkommen überrepräsentierten Akademiker und Akademikerinnen der SPD z. B. im Bundestag zugunsten von Arbeitern, Angestellten, Handwerkern, Krankenschwestern, Verkäufern, Hausfrauen und Arbeitslosen (weibliche und/oder männliche) auf ihre Sitze?
  2. Wann erarbeiten Sie als Justizministerin einen Gesetzesentwurf, der dafür sorgt, dass diese Ungerechtigkeit beseitigt wird und in den Parlamenten vor allem diejenigen Menschen (männliche und weibliche) vertreten sind, die den weitaus größten Bevölkerungsanteil repräsentieren?

Dann kann auch ich (als Nichtakademiker) endlich wieder zur Wahl gehen.

Mit freundlichen Grüßen

Frau Barley ließ sich Zeit mit einer Antwort. Diese war dann allerdings ziemlich ausführlich.

Gesendet: 17. Mai 2019 um 11:43 Uhr
AW: Rückschritte nicht nur bei der Gleichberechtigung

Vielen Dank für Ihre E-Mail bezüglich einer Wahlrechtsreform mit Quotenregelung für den Deutschen Bundestag. Die Bestrebungen dahingehend haben in der letzten Zeit glücklicherweise, vor allem mit Rückblick auf 100 Jahre Frauenwahlrecht, deutlich an Aufmerksamkeit und Unterstützung gewonnen.

Mich erfüllt es mit Sorge, dass wir offensichtlich Rückschritte beim Thema gleichberechtigte Repräsentation von Frauen machen. Nur rund 31% der Abgeordneten im Deutschen Bundestag sind Frauen; das sind so wenige wie schon seit 1994 nicht mehr. Aktuell ist es den Parteien überlassen, ob und wie viele Frauen auf aussichtsreichen Listenplätzen oder in Wahlkreisen kandidieren dürfen. Weitaus mehr als die Hälfte der Abgeordneten im Deutschen Bundestag wurden über die Landeslisten der Parteien gewählt. Dabei sind über die Landeslisten der SPD, der Grünen und der Linken so viele Frauen wie Männer eingezogen, die Fraktionen der FDP und AfD stellen durch ihre männerdominierten Listen jedoch kaum weibliche Abgeordnete. Dies zeigt, dass Parteien wie die SPD, die sich selbst über das Satzungsrecht ihrer Parteien Quotenregelungen gegeben haben, damit wirkungsvoll für mehr weibliche Abgeordnete sorgen und Männer andernfalls überrepräsentiert wären.

Der Unterschied zu anderen Ungleichbehandlungen besteht in rechtlicher Hinsicht: Das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland verpflichtet sich, „die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern“ zu fördern (Art. 3, Abs. 2) und gibt damit die rechtliche Grundlage für ein Paritätsgesetz nach französischem Vorbild. Ein modernes Wahlrecht braucht deshalb unbedingt auch eine Regelung zur geschlechtlichen Quotierung der Kandidaturen. Nachdem Frauen jahrzehntelang in Politik und Wirtschaft unterrepräsentiert waren, wird es Zeit gesellschaftlich geprägte Rollenbilder zu überkommen und mit entsprechenden Anreizen eine Veränderung herbeizuführen.

Nun kritisieren Sie völlig zurecht, dass auch bestimmte Berufsgruppen in den Parlamenten unterrepräsentiert sind. Selbstständige, Gewerbetreibende und Arbeitnehmer sind in der Tat wenig vertreten, während Beamte tendenziell überrepräsentiert sind. Das hängt damit zusammen, dass sie anders als die meisten Berufsgruppen oft ein Rückkehrrecht geltend machen können, wenn sie aus der Politik wieder ausscheiden. Die Mehrheit der Abgeordneten im Deutschen Bundestag hat die Schule außerdem mit dem Abitur abgeschlossen und viele von Ihnen haben studiert.

Als Abgeordnete sind wir – unabhängig von unserem Bildungshintergrund – verpflichtet, die Interessen aller Wählerinnen und Wähler zu vertreten. Die meisten Abgeordneten werden nicht direkt, sondern über Ihre Parteimitgliedschaft in den Bundestag gewählt. Parteien bündeln Interessen bestimmter Gruppen, und wie Sie richtig sagen, ist das Ziel der SPD insbesondere die Interessen der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zu vertreten. Unsere Positionen werden demokratisch in der Partei abgestimmt, jedes Mitglied hat das Recht Anträge einzureichen und sich an diesem Prozess zu beteiligen. In der SPD gehören fast die Hälfte der Mitglieder der Gruppe der Angestellten oder Arbeiter an. Wir haben Altenpfleger, Hafenarbeiter, Chemielaborantinnen, Elektriker und viele andere Berufsgruppen in unserer Partei vertreten. Es ist also bei weitem nicht so, dass nur Akademikerinnen und Akademiker „Politik machen“.

Dennoch gibt es hier offensichtlich Verbesserungsbedarf, wenn man sich die geringe Zahl an Mandatsträger ohne akademischen Hintergrund ansieht. Für Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen, die beispielsweise handwerkliche Berufe ausüben, in der Pflege tätig sind oder familiäre Verpflichtungen haben, ist es oft schwieriger sich aktiv in den traditionellen Strukturen unserer Partei, die oft viel physische Präsenz verlangt, einzubringen. Deshalb arbeiten wir als SPD daran, flexiblere Parteiarbeit zu ermöglichen, wie zum Beispiel durch Online-Angebote oder mehr projektorientiertes Arbeiten anstelle von klassischen Ortsgruppensitzungen. Das soll auch die Hürde für politische Quereinsteiger nehmen, in unserer Partei aktiv zu werden und für politische Mandate zu kandidieren.

Weitere Ideen und die Debatte, wie die SPD ihre Parteiarbeit reformieren möchte, finden Sie auch unter folgendem Link: https://www.spd.de/themen-ideen-kontroversen/moderne-parteiarbeit-organisieren/

Ich glaube nicht, dass eine Quotenregelung für Berufsgruppen der Vielfalt der Berufe mit ihren unterschiedlichen Interessen gerecht werden kann und die Interessensvertretung deshalb wie bisher über die Parteien geschehen muss. Wie gesagt, kommt hier Parteien eine besondere Pflicht zu, Kandidatinnen und Kandidaten so demokratisch auszuwählen, dass sie die Bevölkerung gut repräsentieren.

Zuletzt möchte ich auf Ihre Bemerkung eingehen, dass Sie nicht mehr zur Wahl gehen. Bitte bedenken Sie, dass bei der anstehenden Wahl zum Europäischen Parlament Ihre Stimme besonders viel Gewicht hat, denn es gibt keine Sperrklausel. Das heißt, dass jede abgegeben Stimme zählt, weil eine Partei keine Mindestanzahl an Stimmen braucht, um ins Parlament zu kommen. Jeder Sitz im Europäischen Parlament ist sehr entscheidend, denn es gibt zum Beispiel keine Regierungskoalition und viele Entscheidungen werden deswegen mit wechselnden Mehrheiten getroffen.

Ich selbst bin jetzt 50 Jahre alt, und zu meinen Lebzeiten war die Einheit der Europäischen Union noch nie so gefährdet. Die Einheit, die uns seit 70 Jahren Frieden in Europa garantiert. Das geht uns doch alle an. Deswegen hat es auch noch nie eine Europawahl gegeben, die für Europa und für Deutschland so wichtig gewesen ist, wie die, die wir in diesem Jahr haben.

Es wäre sehr traurig, wenn Sie Ihre Chance vergeben, die politische Zukunft Europas mitzugestalten.

Mit freundlichen Grüßen

Katarina Barley

Da Frau Barley immerhin zwei Monate für Ihre Antwort brauchte, verzichtete ich auf weitere Nachfragen. Zumal die Politikerin auch noch zur Spitzenkandidatin für die bevorstehende Europawahl nominiert wurde und ihr die Arbeit vermutlich langsam über den Kopf wuchs.

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